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Dieser Artikel erschien in der Frankfurter Rundschau Online 2006

Copyright © FR online 2006
Erscheinungsdatum 26.08.2006

 

Dem Käfig entronnen

VON JÖRG SCHINDLER (BREMEN)



Schutz vor Fotografen (dpa)

Der Flug in die Freiheit begann wie fast fünf Jahre zuvor der Flug in die Hölle. An Armen und Beinen gefesselt, an den Boden gekettet und bewacht von 15 schwer bewaffneten Soldaten: So verließ Murat Kurnaz am Donnerstagmorgen den Ort, an dem er mehr als ein Fünftel seines Lebens hatte verbringen müssen. Fünfzehn Stunden später konnte der 24-Jährige erstmals seit dem Herbst 2001 seine Mutter und seine Brüder wieder in die Arme schließen. Da dunkelte es bereits über dem US-Stützpunkt Ramstein in der Pfalz. Für den bulligen Mann eine völlig neue Perspektive: In den fünf Jahren davor hatte er niemals Sterne, sondern Tag und Nacht nur grelles Neonlicht über sich gesehen.

"Murat Kurnaz ist wieder da." Das war die erste und wichtigste Botschaft, die Rechtsanwalt Bernhard Docke am Freitagmittag verkündete, als ausgerechnet im Bremer Überseemuseum dutzende Kameras auf ihn gerichtet waren. Man hatte auch Murats streitbare Mutter zu dieser Pressekonferenz erwartet. Aber sie erschien nicht. "Sie hat nicht die Kraft dazu", sagte Docke. Und als er versuchte zu schildern, wie er dieses erste Treffen von Mutter und Sohn in der Nacht zuvor erlebt hatte und dabei selbst mit den Tränen kämpfen musste, da wurde klar: Im Grunde hat auch er keine Kraft mehr. Dabei wird er welche gebrauchen können. Nach Lage der Dinge nämlich ist der Fall Murat Kurnaz mit dessen allzu später Freilassung noch lange nicht beendet.

Der Fall Murat Kurnaz. "Es müsste eigentlich der Fall Guantánamo heißen", betonte Ferdinand Muggenthaler von Amnesty International am Freitag. Dort nämlich war der Schiffbauerlehrling aus Bremen fast fünf Jahre lang gefangen gehalten worden, ohne Anklage, ohne Gerichtsverfahren, lediglich unter dem Generalverdacht: Terrorismus. Das war offenkundig Unfug. Man wusste es schon lange. Gleichwohl musste Murat Kurnaz noch viele Jahre in seinem winzigen Käfig auf Kuba verbringen, mit Wissen, womöglich sogar mit Billigung deutscher Behörden. Denen warf der hagere Anwalt Docke nun "ein unverzeihliches politisches und moralisches Versagen" vor. Aber dabei wird er es wohl nicht belassen. Wenn sein Mandant sich wieder daran gewöhnt haben wird, frei herumlaufen und schlafen zu dürfen, sobald er müde ist, wenn er wieder Vertrauen fassen kann, wenn er das "Paralleluniversum" Guantánamo, so weit das geht, raus bekommen hat aus seinem Kopf, werden Docke und werden Kurnaz' Mutter - da kann man nach den letzten Jahren sicher sein - noch einmal nachhaken. Dann werden sie versuchen, die fehlenden Puzzleteile dieser unfassbaren Geschichte zu finden, um die ganze Wahrheit ans Licht zu bringen. Dabei ist das, was man jetzt schon weiß, bereits monströs genug.

Murat Kurnaz war 19, als er im Oktober 2001, drei Wochen nach dem Terroranschlag in New York, beschloss, nach Pakistan zu reisen. Vorgeblich, um dort eine Koranschule zu besuchen. So weit kam er nie: Bei einer Routinekontrolle wurde der merkwürdige Junge mit dem rötlichen Haar, der Türke ist, in Deutschland lebt und kein Wort Arabisch sprach, festgenommen. Warum, weiß er bis heute nicht. Kurze Zeit später fand er sich im rechtsfreien Guantánamo wieder, wo nach Ansicht der US-Regierung die übelsten Terroristen inhaftiert sind.

So sehr sie sich aber bemühten: Im Fall Kurnaz konnten die Wärter trotz fragwürdiger Verhörmethoden keinen Nachweis finden, dass er Kontakte zu Al-Kaida, den Taliban oder anderen obskuren Gruppen habe. Auch die Spezialisten vom Bundesnachrichtendienst und vom Bundesverfassungsschutz, die Kurnaz im September 2002 auf Guantánamo vernahmen, kamen zu dem Ergebnis, der Bremer sei lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen, ansonsten jedoch unschuldig. Und so sah es für einen Moment so aus, als könne Kurnaz im Herbst 2002 wieder frei kommen. Dann jedoch kam es Ende Oktober im Kanzleramt zu einer Besprechung, die für den jungen Mann fatale Folgen hatte und die einige hohe Würdenträger der Republik noch in erheblich Erklärungsnot bringen könnte.

Bei der Besprechung, so steht es in einem vertraulichen Regierungsbericht, der in diesem Frühjahr über mehrere Medien an die Öffentlichkeit sickerte, nahmen neben politischen Entscheidungsträgern auch hochrangige Vertreter von BND, BKA und Verfassungsschutz teil. Zuvor hatte Washington offenbar angekündigt, Kurnaz freilassen zu wollen, und bei den Deutschen angefragt, wie mit dem versehentlich Inhaftierten zu verfahren sei.

Folgt man dem Bericht, kam die Runde überein, Kurnaz in die Türkei, wo er noch nie gelebt hat, abzuschieben und gleichzeitig ein Einreiseverbot für Deutschland zu erlassen. Die Türken aber wollten Kurnaz nicht, so dass dessen Martyrium noch vier lange Jahre weiter ging. "Wenn das stimmt", so Docke, sei das ein "unglaublicher Skandal", der ein politisches Nachspiel haben werde. So oder so werden drei Männer unangenehme Fragen im BND-Untersuchungsausschuss über sich ergeben müssen: Außenminister Frank-Walter Steinmeier, der seinerzeit Chef im Kanzleramt war, dazu BND-Chef Ernst Uhrlau, seinerzeit Geheimdienstkoordinator im Kanzleramt, und August Hanning, Uhrlaus Vorgänger und heute Staatsminister im Innenministerium. Sie unter anderen meinte Kurnaz' US-Anwalt Baher Azmy, als er den deutschen Behörden am Freitag "Scheinheiligkeit" attestierte. Zumal es inzwischen auch als gesichert gelten kann, dass hiesige Stellen den Guantánamo-Verantwortlichen "Erkenntnisse" über Kurnaz zukommen ließen - während offiziell gleichzeitig über den "rechtsfreien Raum" auf Kuba gewettert wurde.

Vier Jahre dauerte es nach dieser Sitzung, bis Murat Kurnaz tatsächlich frei kam. Vier Jahre, in denen er nach Angaben Azmys "systematisch" gefoltert, sexuell gedemütigt und gehalten wurde "wie ein Tier". Brechen jedoch konnten ihn seine Häscher offenbar nicht. Als "wach, freundlich und humorvoll" beschrieb Docke am Freitag seinen Mandanten, den auch er nun erstmals kennenlernen durfte. Muskulös ist er geworden und noch gläubiger als früher - woran die Amerikaner ihren Anteil haben: Der Koran war das einzige Buch, das sie Kurnaz in seinem Käfig ließen. Zeit werde er nun brauchen, so Docke, um den "Stempel in seiner Seele" zu entfernen. Gut möglich, dass der Mann, der nie der "Bremer Taliban" war, zu dem er gemacht wurde, danach doch noch selbst das Wort ergreift und zur lebenden Anklage gegen Guantánamo wird.

Gut 450 Menschen vegetieren dort noch vor sich hin. Und niemand weiß, wie viele Fälle Kurnaz darunter noch zu finden sind.

Kommentar zum Fall Kurnaz:

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Erscheinungsdatum 26.08.2006