Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V Home/Startseite: DMLBonn
EMail
Informationen Archiv Links
Stellungnahmen Termine Spenden

Startseite/Home der DMLBonn e.V.
Aus dem Archiv, von der Pressestelle der DMLBonn e.V.


Stern, 16.07.2003

Das Maerchen von der Chancengleichheit

von Walter Wuellenweber

Es war einmal eine Gesellschaft, die glaubte: Wer tuechtig ist, kann es nach ganz oben schaffen. Sogar Arbeiterkinder. Neue Studien enthuellen den Selbstbetrug der Deutschen: Noch immer ist die Elite eine geschlossene Gesellschaft. Eines der wichtigsten politischen Ziele der Nachkriegsgeschichte wurde verfehlt.

Am Anfang sind noch alle gleich. Keine sozialen Unterschiede, keine Hierarchie, kein oben, kein unten. Noch mutterwarm liegen sie nebeneinander, die Neugeborenen im Allgemeinen Krankenhaus Hamburg-Altona. Keiner kann jetzt schon sagen, wer mal Professorin wird, wer Vorstandsvorsitzender oder Richter. Und wer ein kleiner Angestellter, Putzfrau oder arbeitslos. Jetzt, in den ersten Stunden, bietet das Leben all diesen kleinen Menschen die gleichen Chancen. Von wegen. Die Wuerfel sind schon gefallen.

Entscheidend ist die Autobahn, die kaum hundert Meter neben dem Krankenhaus verlaeuft. Die A7 trennt den Arbeiterbezirk Altona von den noblen Elbvororten, die sich eines der hoechsten Pro-Kopf-Einkommen der ganzen Republik erfreuen. Und sie teilt die Saeuglinge des Krankenhauses auf. In den naechsten Tagen werden Muetter und Kinder das Krankenhaus verlassen.

Welche Kinder landen auf der Sonnenseite? Und wer muss in den Schatten? Ausschlaggebend fuer die Entwicklung eines Menschen - was er lernt, ob seine Talente gefoerdert werden, wie weit er kommen kann - das entscheidet in Deutschland die soziale Herkunft. Heute mehr denn je. Du wirst, was deine Eltern sind.

Zum Manager wird man geboren

Chancengleichheit, das war das grosse politische Ziel der Bundesrepublik in den siebziger Jahren. Die Gesellschaft war sich einig: Kinder von beiden Seiten der Autobahn sollten Abitur machen, studieren, die Chefsessel von Staat und Wirtschaft erobern koennen. Damals war Klaus von Dohnanyi Bildungsminister im Kabinett von Willy Brandt. "Was die Chancengleichheit angeht, haben wir viel zu wenig erreicht, viel zu wenig", sagt Dohnanyi heute. "Wenn wir ehrlich sind, muessen wir feststellen: Wir haben drei Jahrzehnte ungenutzt verstreichen lassen."

Unzaehlige Studien stuetzen Dohnanyis niederschmetterndes Fazit. "Frueher haben wir wirklich geglaubt, dass man durch Bildung aufsteigen kann. Inzwischen wissen wir: In Deutschland ist das eine Illusion", sagt Harry Friebel, Soziologie-Professor aus Hamburg, der die Lebenslaeufe von Menschen untersucht. "Nach wie vor ist die soziale Schicht, aus der jemand kommt, entscheidend fuer den gesamten Lebensweg." Sein Kollege, Professor Michael Hartmann aus Darmstadt, untersucht den familiaeren Hintergrund des deutschen Topmanagements. Er hat herausgefunden: "Was den Zugang zu den hohen Fuehrungspositionen angeht, hat die Bedeutung der sozialen Herkunft in den vergangenen Jahrzehnten nicht abgenommen. Im Gegenteil, sie nimmt sogar noch zu. Zum Manager wird man sozusagen geboren. Heute gilt das noch mehr als vor zwei oder drei Jahrzehnten."

Soziale Mobilitaet: Motor der Gesellschaft

Gleiche Chancen fuer alle, das ist natuerlich eine Illusion, ein Ziel, das man anstreben soll, aber nie ganz verwirklichen kann. Das ist in allen Gesellschaften so. Die familiaeren Benachteiligungen wenigstens einigermassen auszugleichen, ist daher eine der wichtigsten Aufgaben der Politik. Und das nicht nur, weil es gerecht ist und zudem ein Auftrag des Grundgesetzes. Die soziale Mobilitaet - also die realistische Aussicht, durch Tuechtigkeit aufsteigen zu koennen - ist keine Sozialromantik. Sie ist der Motor der Gesellschaft. Erst das Versprechen des Aufstiegs motiviert die Menschen zur Leistung. Und eine Volkswirtschaft, deren wichtigster Rohstoff die Faehigkeiten seiner Menschen ist, muss diesen Rohstoff so effektiv wie moeglich nutzen. "Aber bei uns werden diese Ressourcen nicht annaehernd ausgeschoepft", sagt Dohnanyi.

Der Fahrstuhl in die oberen Etagen ist fuer alle Kinder der unteren und mittleren Schichten die Bildung. Der Mannheimer Soziologie-Professor Walter Mueller vergleicht unterschiedliche Bildungssysteme auf der Welt und muss feststellen: "Kein anderes Bildungssystem benachteiligt die Benachteiligten und bevorzugt die Bevorzugten so stark wie das deutsche." Die Pisa-Studie hat gezeigt: Nirgendwo haben die Kinder aus sozial schwachen Schichten so viel schlechtere Bildungschancen als Gleichaltrige aus besseren Kreisen - selbst in Laendern wie Argentinien nicht, in denen die Gegensaetze zwischen Arm und Reich unueberwindlich scheinen.

Die richtigen Eltern

Wer bei den Eltern Pech hat, den bestraft die Schule zusaetzlich. "Es gab in den vergangenen Jahren eine Vielzahl von Studien mit unterschiedlichen Methoden. Doch die Tendenz ist immer gleich: Deutschland ist internationaler Spitzenreiter bei der Ungleichheit", sagt Mueller. In Zahlen ausgedrueckt: Von 100 Kindern aus der Oberschicht gehen 84 aufs Gymnasium und danach 72 zur Universitaet. Aus den unteren Schichten werden nur ganze 33 auf die hoehere Schule geschickt. An eine Universitaet schaffen es noch acht.

Und der Abstand vergroessert sich. In den vergangenen 20 Jahren hat sich der Anteil der Studenten hoechster sozialer Herkunft verdoppelt, waehrend bei den niedrigen Herkunftsgruppen dramatische Einbrueche zu verzeichnen sind. "Die Familie ist und bleibt der zentrale Risikofaktor fuer den Lebenslauf", sagt Soziologe Friebel.

Folgen wir also dem Lebenslauf: Nach der Saeuglingsstation kuemmert sich der Staat sechs Jahre lang ueberhaupt nicht um die Bildung des Nachwuchses. Eltern koennen ihre Kinder zwar in einen - teuren - Kindergarten schicken. Dort werden sie vor allem betreut, also aufbewahrt. Bezeichnenderweise sind dafuer in den meisten Bundeslaendern nicht die Bildungsministerien verantwortlich, sondern die Familienministerien. In der Phase seines groessten Lernhungers wird der Nachwuchs darum nur mit karger Hirn-Nahrung gefuettert. Von systematischer Foerderung keine Rede. Es sei denn, ein Kind hat die richtigen Eltern, die sich eine private Kita mit gut ausgebildeten Erziehern leisten koennen. Eltern, die ihrem Nachwuchs am Nachmittag etwas anderes bieten koennen als die Glotze. Vielleicht Klavierunterricht.

Gute Idee - nie umgesetzt

Die ersten Jahre sind entscheidend fuer die Entwicklung eines Menschen. Hirnforscher haben nachgewiesen, was der Volksmund lange wusste: Was Haenschen nicht lernt? In dieser Zeit bildet sich die Leistungsfaehigkeit des Gehirns heraus. Der Mensch lernt das Lernen. Wenn die Kinder dann mit sechs Jahren eingeschult werden, sind die gefoerderten Kinder den anderen schon enteilt. Uneinholbar und fuer immer. Damit der Abstand nicht zu gross wird, werden in den meisten unserer Nachbarlaender die Kinder bereits in einer Vorschule unterrichtet und ein Jahr frueher eingeschult. Genau das steht in den Plaenen der Bundesregierung: Vorschule und frueher einschulen.

Halt! Das sind leider nicht die Plaene der Regierung Gerhard Schroeder, sondern der Regierung Willy Brandt. 30 Jahre - oder neun Bildungsminister - spaeter wird noch immer darueber diskutiert, auf Parteitagen, in Parlamenten, in Talkshows. Eine typische deutsche Reform: gute Idee - nie umgesetzt.

Naechste Station auf dem Lebensweg ist das Ende der Grundschule. Jetzt, wenn die Kinder zehn sind, trifft das Bildungssystem seine folgenschwerste Entscheidung: Gymnasium oder nicht. "Es ist doch absurd, Viertklaesslern zu sagen: Ihr werdet Maurer", sagt Andreas Schleicher, Koordinator der Pisa-Studie in Deutschland. Nirgendwo wird frueher aussortiert. Laender, deren Bildungssystem bei Pisa und anderen Untersuchungen in der Disziplin Chancengerechtigkeit gut abgeschnitten haben - allen voran die skandinavischen Staaten - lassen ihre Schueler gemeinsam lernen, bis sie 15 oder 16 Jahre alt sind. Erst dann wird aussortiert. Denn je juenger einer ist, desto weniger weiss man ueber ihn. Und um so wichtiger werden bei der Entscheidung die Eltern und ihr sozialer Hintergrund.

20 Absteiger auf einen Aufsteiger

Das Potenzial von Zehnjaehrigen endgueltig abzuschaetzen, ueberfordert auch die Lehrer. Ein Test mit 12.000 Hamburger Schuelern ergab: Lehrer bewerten Schueler mit gebildeten Eltern besser. Ein Kind, dessen Vater keinen Schulabschluss hat, muss im Unterricht weit ueberdurchschnittliche Leistungen zeigen, um vom Grundschullehrer eine Empfehlung fuer das Gymnasium zu bekommen. Wenn Papa das Abi hat, reichen durchschnittliche Leistungen. Die Oben-unten-Aufteilung ist fast immer endgueltig. Ein Wechsel der Schule ist meist nur noch in eine Richtung moeglich: n ach unten. Auf jeden Aufsteiger kommen 20 Absteiger. Und wer steigt ab? "Wenn ein Arbeiterkind sitzen bleibt, heisst es: Auf dem Gymnasium war es wohl nicht richtig. Bei Kindern aus buergerlichen Kreisen sagen die Eltern: Dreht es eben eine Ehrenrunde", erklaert Professor Friebel. Dieser Mechanismus wirkt ueber die gesamte Zeit der Ausbildung.

Bei den Kleinen, bei Zehnjaehrigen, selektiert das deutsche System knallhart. Doch je groesser die Kinder werden, um so lascher wird die Auswahl. Im Abitur fallen nur noch wenige durch. Und an den Universitaeten werden die Leistungsstandards immer weiter gesenkt. So weit, dass der Wissenschaftsrat kuerzlich in einer Studie feststellen musste, die Nachwuchswissenschaftler wuerden von Jahr zu Jahr intelligenter. Jedenfalls scheinbar. Die Leistungen werden inzwischen fast nur noch mit "sehr gut" oder "gut" bewertet. Die durchschnittliche Examensnote in Biologie, Physik und Psychologie betraegt 1,4, in Mathematik, Philosophie und in Chemie 1,5.

Brutal aussortiert

Kuschelnoten sollen Arbeiterkindern zum Abitur oder einem Universitaetsexamen verhelfen. Welch gut gemeinter Irrtum. Denn die begabten und tuechtigen Kinder von der falschen Seite der Autobahn koennen sich nur im harten Wettbewerb gegen die Konkurrenz durchsetzen. Durch Leistung. Liegt die Latte jedoch so tief, dass fast alle drueberspringen koennen, dann ist ihre einzige Chance dahin. Wodurch sollen sie jetzt noch auf sich aufmerksam machen? Zum Beispiel bei einem Personalchef. Bei dem stapeln sich 20 Bewerbungen, 15 davon mit Einserzeugnis. Dem Arbeitgeber bleibt nichts anderes uebrig, als nach anderen Kriterien zu suchen: Passt der zu uns? War er im Ausland? Was hat er sonst noch gemacht? Das "sonst noch" wird schliesslich zur Hauptsache, die fachliche Leistung zur Nebensache. Na, wer wird wohl am Ende den Job bekommen? "Das Senken der Standards nuetzt nur den Kindern der Oberschicht. Allen anderen schadet es", sagt Klaus von Dohnanyi.

Das deutsche Bildungssystem begeht nicht den einen grossen Fehler. Es ist eine Kette von Irrtuemern und Ungerechtigkeiten in jeder Phase der Ausbildung. Das System steht auf dem Kopf. Der Kindergarten - wichtigste Basisfoerderung fuer alle - kostet Geld. Studieren - ein Privileg fuer wenige - ist kostenlos. In der Periode, in der die Benachteiligung am wirksamsten bekaempft werden koennte, in den ersten sechs Lebensjahren, kuemmert sich der Staat fast gar nicht um die Kinder. Statt sie zu foerdern, werden sie schon mit zehn Jahren brutal aussortiert. Je groesser die Kinder werden, desto weiter werden die Ansprueche gesenkt. Immer das Falsche, immer zur falschen Zeit. Wuerden sich die Reichen und Maechtigen einen Plan ausdenken, um ihre Macht zu zementieren - sie koennten es nicht besser machen. Der Soziologe Friebel nennt diese Realitaet eine "millionenfach verfassungswidrige Normalitaet". Das System schafft eine neue Klassengesellschaft.

Wehe, du hast die falschen Eltern

Wie konnte das passieren? Warum haben die Deutschen bei ihrem grossen Ziel der siebziger Jahre so allumfassend versagt? Was das Bildungssystem angeht, so ist die Antwort die Standardantwort, denn es geht um das Standardproblem: Reformstau. "Die meisten anderen Laender haben in den vergangenen Jahrzehnten ihre Bildungssysteme reformiert. Deutschland nicht", sagt Bildungssoziologe Walter Mueller. "In seiner Grundstruktur wurde das System in den letzten 50 Jahren nur unwesentlich veraendert. Ich nenne das eine institutionelle Sklerose." Die Schule ist vorbei, weiter ins Berufsleben: Nach der Ausbildung beginnt die Ungleichheit erst richtig. Seit ueber 20 Jahren beobachtet Harry Friebel eine Gruppe von Schulabgaengern. Regelmaessig trifft er immer dieselben Probanden, die 1979 das Abitur, den Real- oder Hauptschulabschluss machten, um zu sehen, was aus ihnen geworden ist. Die Berufswege der Jungs aehneln denen ihrer Vaeter, die Maedchen leben meist so wie ihre Muetter vor 20 Jahren. "Es ist erstaunlich, wie massiv auch der berufliche Weg von der sozialen Stellung der Herkunftsfamilie gepraegt ist. Dabei leben die Probanden ueberwiegend in der irrigen Vorstellung, sie koennten selbst viel entscheiden. In der Realitaet ist es aber ganz wenig." Oben bleibt oben und unten bleibt unten. Wehe, du hast die falschen Eltern.

Das gehobene Buergertum - ein Klasse fuer sich

Das gilt selbst fuer diejenigen, die es eigentlich geschafft haben, die trotz aller Hindernisse am hoechsten Punkt des Bildungssystems angekommen sind: dem Doktortitel. Michael Hartmann hat die Karrieren von rund 6.500 promovierten Juristen, Ingenieuren und Wirtschaftswissenschaftlern untersucht. Aus diesem Kreis werden normalerweise die Fuehrungspositionen besetzt. Doch auch bei der Elite gilt: Wer aus dem richtigen Elternhaus stammt, bekommt die besseren Einstiegsjobs, steigt schneller auf und klettert am Ende hoeher. "In den 400 groessten deutschen Unternehmen ist die Chance auf eine Fuehrungsposition fuer den promovierten Nachwuchs aus dem gehobenen Buergertum doppelt, fuer den Nachwuchs aus dem Grossbuergertum sogar dreimal so gross wie fuer gleich qualifizierte Promovierte aus der Mittelschicht und der Arbeiterklasse", sagt Hartmann. Das Endergebnis sieht so aus: Uber 80 Prozent der Nummer-eins-Chefs in den grossen deutschen Unternehmen stammen aus dem Buergertum, jener hauchduennen Schicht, der nur 3,5 Prozent der Gesellschaft angehoeren. Die Haelfte kommt sogar aus dem gehobenen Buergertum, also dem obersten halben Prozent. Eine Klasse fuer sich.

Wenn das stimmt, wird zumindest die Wirtschaft in Deutschland nicht von den Besten gefuehrt, sondern vom Nachwuchs der obersten Kaste. "Genau so ist es", sagt Hartmann. "Die so genannte Leistungselite ist ein Mythos, eine Illusion."

Das beruehmte Vitamin B entscheidet dabei nicht allein. Der Mechanismus ist viel subtiler. Jeder Chef, das ist menschlich, foerdert Nachwuchsleute, die ihm aehnlich sind, in denen er sich wiedererkennt: So war ich vor 30 Jahren. Damit kommen nicht messbare, weiche Faktoren ins Spiel: die Verhaltensweise, das Auftreten. Soziologen sprechen vom "Habitus". "Wer in buergerlichen Kreisen aufgewachsen ist, hat das mit der Muttermilch eingesogen. Das meiste davon kann man nicht lernen", sagt Hartmann. Der begabte Ingenieur, der sich aus dem Arbeiterviertel hochgerackert hat, ist womoeglich unuebertroffen beim Entwickeln komplexer Anlagen. Aber ihm fehlt die Souveraenitaet, bei der Dinnerparty mit der Gattin des Chefs ueber Verdi-Opern zu parlieren. Und wenn der Aufsteiger sich Muehe gibt? Dann merkt man ihm die Muehe an. Was er sagt, wirkt wie gepaukte Vokabeln. Die Leichtigkeit beherrscht er nie. Fuer seinen Konkurrenten aus dem richtigen Elternhaus hingegen sind solche Auftritte Heimspiele.

"Der Habitus ist ganz oft entscheidend"

Zum Beispiel fuer Mathias Doepfner, Musikwissenschaftler, Sohn eines Architekturprofessors, aufgewachsen in Frankfurt und Boston und verheiratet mit der Tochter eines ehemaligen Vorstandes der Deutschen Bank. Er gilt als unuebertroffen im Repraesentieren. Er stieg auf von einem Flop zum naechsten: Zuerst machte der Verlag Gruner + Jahr (stern, "Brigitte") ihn zum Chefredakteur der "Wochenpost", die er nach seinen Vorstellungen umgestaltete. Sie verlor Auflage, musste verkauft und kurz darauf eingestellt werden. Dann wurde er Chefredakteur der "Hamburger Morgenpost", die er umgestaltete. Sie verlor Auflage und wurde verkauft. Sein naechster Job war Chefredakteur der "Welt", die er umgestaltete. Aus wirtschaftlichen Gruenden hat er sie spaeter mit der "Berliner Morgenpost" zwangsfusioniert. Schon eines dieser Ergebnisse wuerde normalerweise jede Karriere ruinieren. Doepfner wurde 2002 Vorstandsvorsitzender des Verlages Axel Springer ("Bild", "Welt"). Er gilt in der Branche als Protegé der maechtigen Verlegerwitwe Friede Springer, die vor allem vom Auftreten Doepfners hingerissen sein soll. "Der Habitus ist ganz oft entscheidend", sagt Professor Hartmann. "Er signalisiert: Ich gehoere wirklich dazu."

Wichtiger noch als die richtige Etikette ist natuerlich die Macht. Auch sie gehoert zur Babynahrung der Oberschicht. Von den Vorstandsvorsitzenden der 30 im Dax notierten Unternehmen haben 23 einen richtigen Boss zum Vater: Bankdirektoren, Oberbuergermeister, Richter, Handwerksmeister mit groesseren Betrieben, Unternehmer. Nur ein Vorstand stammt aus einer Arbeiterfamilie: Werner Wenning von Bayer. Heinrich von Pierer, der Vorstandsvorsitzende von Siemens, bekam in seiner Kindheit ein ganz spezielles Verhaeltnis zu Macht vorgelebt. Sein Vater war Oberst, sein Grossvater Generalmajor. Und natuerlich wurde der Commerzbankchef Klaus-Peter Mueller davon gepraegt, dass sein Vater Peter zuerst Oberbuergermeister von Duesseldorf und spaeter Geschaeftsfuehrer der Bausparkasse BHW war. In Durchschnittsfamilien wird am Abendbrottisch ueber die teure Telefonrechnung gezankt. Womoeglich wurde bei Familie Ricke frueher die Frage eroertert, wie man die Leute dazu bringt, noch viel mehr zu telefonieren. Helmut Ricke war in der alten Deutschen Bundespost Vorstand fuer Telekommunikation. Und sein Sohn? Kai-Uwe Ricke ist heute Vorstandsvorsitzender der Deutschen Telekom - Papas Nach-Nachfolger.

Der Job eines Chefs ist Macht

Topmanager entwerfen keine Autos, sie bauen keine Haeuser, entwickeln keine Medikamente. Der Job eines Chefs ist Macht. Und die lernt man nicht in der Schule oder auf der Uni. "Darum werden Arbeiterkinder und der Nachwuchs der Mittelschicht im besten Fall qualifizierte Experten. Nach ganz oben schaffen sie es nur in Ausnahmefaellen. Und die bestaetigen die Regel", sagt Hartmann. Aufsteigen ist also doch moeglich. Aber nur bis zum Abteilungsleiter. Die Chefetage bleibt fast immer reserviert fuer die Soehne der Oberschicht. Und was ist mit dem Putzfrauensohn Gerhard Schroeder? Der brachte es immerhin zum Bundeskanzler. Und sein Vize Joschka Fischer wurde ohne Abitur Aussenminister. In der Politik gelten andere Regeln. Dort wird nicht nach Herkunft selektiert, sondern nach Durchhaltefaehigkeit. Wer da nach oben will, muss bereit sein, sich auf die jahrelange Ochsentour zu begeben. "Das ist fuer den Nachwuchs des Buergertums nicht attraktiv. In Wirtschaft, Justiz oder Verwaltung hat er einen viel direkteren Zugang zu Fuehrungspositionen", sagt Hartmann.

Schroeder und Fischer gehoeren zudem zu einer Generation, in der Aufsteigen noch eher moeglich war. Vor allem in den 60er und 70er Jahren waren die Bedingungen dazu ungewoehnlich gut: Die Vaeter dieser Generation - auch der des Kanzlers - waren zu Tausenden im Krieg gefallen. So konnten die Jungen oft schon frueh in Positionen aufsteigen, die ansonsten ihre Vaeter noch besetzt haetten. Wichtiger jedoch war: Die Wirtschaft wuchs kraeftig und brauchte jeden. Fuer eine kurze Bluetezeit konnten damals auch Hauptschueler bis ins Management gelangen. "Wenn die Marktbedingungen gut sind, profitieren auch die unteren Schichten. Dann kann auch ein Teil von ihnen in hoehere Positionen aufsteigen", sagt Hartmann. "Wenn es dagegen schlecht laeuft, dann verdraengt der Nachwuchs aus buergerlichen Kreisen die Konkurrenz fast vollkommen." Genau das geschieht jetzt. Die Sechziger und Siebziger mit ihren aussergewoehnlichen Moeglichkeiten fuer alle Klassen waren eine historische Ausnahmesituation. Die Zeiten sind vorbei. Doch noch immer praegt die laengst vergangene Realitaet die Vorstellung, die sich viele Deutsche von der Chancengleichheit machen.

In Deutschland heisst die Eintrittskarte: Geburt

Die Oberschicht in Deutschland hat sich so zu einer geschlossenen Gesellschaft entwickelt. Und das beinahe unbemerkt. Wie konnte das geschehen? "In Deutschland wissen wir oft nichts ueber die Herkunft der Topleute", sagt Michael Hartmann. Die Chefs wollen nur ungern etwas ueber ihre Familie preisgeben. Im deutschen "Wer ist wer?" fehlen - anders als im internationalen "Who's Who" - die Angaben ueber den familiaeren Hintergrund der Wichtigen im Land. Als der stern die Vorstandsvorsitzenden der 30 Dax-Unternehmen nach ihrer familiaeren Herkunft fragte, wollten 23 zunaechst keine Auskunft geben. Viele hielten die Frage fuer einen unanstaendigen Angriff auf ihre Privatsphaere. Den deutschen Chefs gefaellt ihr Bild, wonach sie aus dem Nichts aufgetaucht sind und sich einzig durch ihre Leistung an die Spitze gearbeitet haben. Und die Oeffentlichkeit glaubt die Legende gern. Denn sie naehrt die Illusion, jeder koennte es schaffen, wenn er sich nur genuegend anstrengt. Ein schoener Selbstbetrug.

Doch nicht nur Heimlichtuerei und unterlassene Reformen sind fuer die Situation verantwortlich. Deutschland hat sich in vergangenen Jahrzehnten staerker darauf konzentriert, den sozialen Abstieg zu verhindern, als den Aufstieg zu ermoeglichen. Mit entscheidend dafuer war die Ideologie. Es geht um ein boeses Wort: Elite. Weil im Faschismus politische, militaerische, kirchliche und oekonomische Eliten versagten, war den Deutschen Elite als solche suspekt. Eliten wurden ignoriert, ganz so, als gaebe es sie nicht. Wie naiv. Jede Gesellschaft wird bestimmt von ihren Eliten. Die Gesellschaftsform aendert daran nichts. Gerade die kommunistischen Einheitsgesellschaften wurden von einer besonders starren Nomenklatura kontrolliert. Die Frage ist also nicht, ob eine Gesellschaft eine Elite hat, sondern wer dazugehoert. Und vor allem: Wie schafft man es, in den erlauchten Kreis aufgenommen zu werden? In Deutschland heisst die Eintrittskarte: Geburt.

In den USA gilt jung, schlau und tuechtig

Der Versuch, Eliten zu verhindern, hat die Stellung der alten Eliten nur verstaerkt. In anderen Laendern wird Elite - wohlgemerkt die Leistungselite - gezielt gefoerdert. Nicht wegen der Gerechtigkeit, sondern aus kaltem oekonomischem Kalkuel. In den USA sind die besten Universitaeten private Unternehmen, die teure Studiengebuehren kassieren und Gewinne erwirtschaften muessen. Hoert sich ungerecht an. Ist es aber nicht. Denn in Harvard, Princeton oder Stanford haben die Besten eines Jahrgangs realistische Chancen auf einen Studienplatz, auch wenn sich ihre Eltern die Gebuehren nicht leisten koennen. Das betrifft nicht nur eine Alibi-Minderheit, sondern die Mehrheit. 60 Prozent der Studenten amerikanischer Elite-Unis sind von den Gebuehren ganz oder teilweise befreit und bekommen von ihrer Hochschule finanzielle Beihilfe. Zurueckgezahlt wird spaeter, mit Zins und Zinseszins. Am Ende der Ausbildung in den beruehmten Kaderschmieden stehen die Arbeitgeber bei den Absolventen Schlange, um ihnen bestbezahlte Jobs anzubieten. Dann heisst es: Du bist jung, schlau und tuechtig. Dein Papa ist Hilfsarbeiter, na und? Willkommen im Club. Dir gehoert die Welt.

Erschienen in der Zeitschrift Stern, Ausgabe vom 16.07.2003

Stern



Deutsche Muslim-Liga Bonn e.V. - 1424 / 2003